Erstaufführung des Films "Die Unsichtbaren - Wir wollen leben" in Frankreich

Bericht

Die Enkelin von Hanni Lévy konnte erstmals auf großer Leinwand sehen, wie ihre heute 94 Jahre alte Großmutter den Holocaust in Berlin überlebt hat: Bei der Frankreich-Premiere des Films „Die Unsichtbaren – Wir wollen leben“, gezeigt von der Heinrich-Böll-Stiftung Frankreich am 9. Juli in einem Programmkino nahe des Boulevard Saint-Germain in Paris. 

Claudia Roth und Hanni Lévy (v.l.n.r.)
Teaser Bild Untertitel
Claudia Roth und Hanni Lévy (v.l.n.r.)

Der Semidokumentarfilm von Regisseur Claus Räfle erzählt, wie die jüdischen Berliner und Berlinerinnen Hanni Lévy, Cioma Schönhaus, Ruth Arndt-Gumpel und Eugen Friede in einer Zeit der Verhaftung, Verfolgung und Deportation in Berlin untertauchten und so bis Kriegsende überlebten. Im Anschluss des Films gab es eine von Hélène Miard-Delacroix moderierte Diskussion mit

Hanni LÉVY, eine der "Unsichtbaren"

Claus RÄFLE, Regisseur des Films

Claudia ROTH, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages

Hélène WAYSBORD, Ehrenpräsidentin des Maison d'Izieu und Autorin der Bücher "l'Amour sans visage" und "Alex ou le porte-drapeau".

 

Überlebenskampf in der Nazizeit: Filmpremiere von „Die Unsichtbaren – Wir wollen leben“

Vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten lebten rund 160.000 jüdische Bürgerinnen und Bürger in Berlin. Von ihnen versuchten 7.000 unterzutauchen. Nur 1.700 überlebten, oft als einzige ihrer Familie und Bekannten, die deportiert und umgebracht werden, von deren grausamen Ende sie erst später erfuhren. Diese „Unsichtbaren“ wechselten ihre Identitäten, versteckten sich und mussten betont lässig und selbstbewusst durch die Straßen der seinerzeit „Reichshauptstadt“ schlendern, um bloß nicht aufzufallen. Verfolgt von der Gefahr, von früheren Nachbarn und Kollegen erkannt und verraten zu werden. Durch die Kombination von Interviews mit den Zeitzeugen sowie der filmischen Darstellung der von ihnen erlebten Geschichte, erhält dieser außergewöhnlich Film eine große Kraft, geht tief unter die Haut und regt zum Nachdenken an.

 

(V.l.n.r: Claudia Roth, Cornelia Geiser, Claus Räfle, Hélène Miard-Delacroix, Hanni Lévy und Hélène Waysbord)

Eine dieser „Unsichtbaren“ war Hanni Lévy. Geboren und aufgewachsen in Berlin, mit einer „schönen und unbeschwerten Kindheit“ wie sie sagt, verlor sie ihre Angehörigen im Holocaust und ging nach Kriegsende nach Paris. Dort ist sie heute der Kopf einer weit verzweigten Familie, bis hin zu Urenkeln. Bei ihren Kindern hatte sie noch großen Wert darauf gelegt, dass diese auch Deutsch mit ihr sprechen, die Sprache und Kultur der Heimat ihrer Mutter kennen. Hanni Lévy sagt heute: „Ich bin eine Berlinerin. Und ich bin Pariserin“.  

 

Hanni Lévy

Vor allem ihr zu Ehren veranstaltete das Büro Paris der Heinrich-Böll-Stiftung diese Vorführung, die den Film nun mit französischen Untertiteln zeigte. Erstmals konnten Hanni Lévys Enkel sowie viele ihrer Freunde und Bekannten sowie rund 150 weitere Gäste diesen Film sehen. In Deutschland hat „Die Unsichtbaren“ immerhin bereits über 100.000 Besucher in die Kinos gelockt.

In der Debatte im Anschluss ging es um die Entstehungsgeschichte des Films sowie seinen wichtigen Beitrag für eine lebendige Erinnerungskultur, die nicht vergisst, was war und welche Lehren daraus bis heute zu ziehen sind. Eigens für diesen besonderen Anlass war Claudia Roth, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, nach Paris gekommen. Sie unterstrich bei der Podiumsdiskussion nach dem Film: „Dieser Film macht sehr deutlich, dass man nicht vergessen darf, was nach Ausschwitz gesagt wurde: Nie wieder! Der Film ist auch so wichtig, weil er zeigt: Widerstand ist möglich. Man hört oft, Widerstand gegen die Nazis sei nicht möglich gewesen. Es ist ein Film, der den Mut gibt, nicht einfach zu akzeptieren, sondern Widerstand zu leisten, Gesicht zu zeigen. Auch heute nicht zu akzeptieren, dass ein Innenminister in Italien jetzt wieder Sinti und Roma zählen lassen will“. Die Würde des Menschen sei unantastbar, so Roth. Eine Lehre dieses Filmes sei, dass der 70. Jahrestag der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember in Paris keine Beerdigung sein dürfe. „Es muss vielmehr wieder eine neue Geburtsstunde der Menschenrechte sein“, so die Vizepräsidentin.

 

Claudia Roth - Vizepräsidentin des Bundestags

Hanni Lévy ging auf ihre im Film gezeigte Geschichte ein: „Ich hatte keine Angst. Denn wenn Sie Angst haben und sich wirklich verstecken, dann sind sie verdächtig. Und das war absolut unmöglich, ich musste mich verhalten wie jeder andere auch.“ Sie machte deutlich, dass sie nur überleben konnte dank Berlinerinnen und Berlinern, die gegen das Nazi-Regime waren und ihr in den entscheidenden Momenten geholfen haben, als ihr oft kein anderer Ausweg mehr blieb – und die dafür selbst ihr Leben riskierten

Zur Entstehungsgeschichte des Films sagte Regisseur Claus Räfle: „Wir haben eigentlich zwei Filme gemacht, die ineinandergreifen: Eine Interviewerzählung als Dokumentarfilm und ein Spielfilm. Das gibt diesem Film auch die Kraft, wie ich gemerkt habe, dass er wirklich emotionalisiert.“ Wichtig sei ihm gewesen, aufzuzeigen „Wie die Geretteten, die Unsichtbaren, auch mit Stolz erzählen, wie sie sich gegen die Nazis durchgesetzt haben, wie sie sie überlistet haben. Wir wollten erzählen, wie viel Mut jüdische Menschen aufgebracht haben und Widerstand geleistet haben. Wir wollten zeigen, dass es selbst in dieser Nazihölle, in diesen unsagbar finsteren Zeiten, in der die Übereinkunft der Zivilisation aufgekündigt worden ist durch die Nationalsozialisten, dass es selbst dort noch Menschen gab, die sich nicht von ihrer Überzeugung haben abbringen lassen, sondern die einfach ihrem Impuls gefolgt sind, und helfen wollten.“

Hélène Wasybord, die Ehrenvorsitzende des Maison d’Izieu, einem Kinderheim und Zufluchtsort für junge jüdische Europäerinnen und Europäer in der Nähe von Lyon, die ihre Eltern und Angehörige durch Deportationen und Tod bereits verloren hatten, und wo die SS am 6. April 1944 schließlich alle Kinder nach Ausschwitz deportierte und dort umbrachte, nahm auch an der Podiumsdiskussion teil. Sie selbst hatte im Holocaust in Paris ihre Eltern verloren, überlebte nur zufällig, weil sie zum Zeitpunkt der Deportation in der Schule war und sie anschließend von einer Handwerkerfamilie in der französischen Provinz aufgenommen wurde. Sie unterstrich, dass der Film in besonderer Weise die Frage der Menschenrechte ansprechen würde: „Familienbande einfach kappen, Kinder von ihren Eltern trennen, Frauen von ihren Männern und umgekehrt, Eltern von Ihren Großeltern. Menschen alles nehmen, was sie besitzen bis dazu, dass sie nicht einmal mehr einen Hund besitzen dürfen. Ohne Heimat und kein Ort, wohin sie gehen können. Völlige Einsamkeit, niemand mehr, mit dem sie sprechen können. Das heißt, es gibt überhaupt keine Form der Humanität mehr und Menschenrechte existieren nicht mehr“.

 

Hanni Lévy und Hélène Waysbord - Ehrenvorsitzende des Maison d’Izieu

Mit viel Fingerspitzengefühl wurde diese Diskussion von Hélène Miard-Delacroix moderiert, Professorin für deutsche Zeitgeschichte und Zivilisation an der Universität Paris-Sorbonne. Eingeführt in den Abend hatte der Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Paris, Jens Althoff. Er verwies unter anderem auf die Wahlerfolge rechtsautoritärer Kräfte in Deutschland und Europa, die versuchen, das Menscheitsverbrechen Holocaust zu relativieren und erneut darauf setzen, gegen bestimmte Gruppen Stimmung zu machen und davon zu profitieren: „Die Gestaltung eines friedlichen Zusammenlebens in pluralistischen Demokratien in einem gemeinsamen Europa, das den Nationalismus überwunden hat, ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Für diese Ideen und Werte gilt es tagtäglich zu kämpfen“, so Althoff. In einem bewegenden Grußwort verwies der deutsche Botschafter in Frankreich, Nikolaus Meyer-Landrut, auf die aus dem Holocaust erwachsende Verantwortung Deutschlands in Europa bis heute, die nicht vergessen werden dürfte.

Ein Abend, der nur ein Beginn für das Engagement der Heinrich-Böll-Stiftung Frankreich für eine lebendige Erinnerungskultur ist. Auch Ehrengast Hanni Lévy zeigte sich in ihrem Einsatz dafür alles andere als altersmüde:

„Ich freue mich, dass ich heute nach Berlin gehen kann und dort mit jungen Menschen sprechen kann, die diesen Teil der Geschichte nicht kennen.“